Familiendrama: Und was machen die Medien daraus?

Ein Mann erschiesst seine Ex-Freundin auf der Gartenterrasse. In der Wohnung hören die drei Töchter der Frau die Schüsse, laufen hinaus und entdecken die leblosen Körper. Es ist ein Drama. Und als Journalist frage ich mich, wie ich so eine "Geschichte" meinem Publikum erzählen soll. Denn solche menschliche Dramen gehen mir noch immer nah. Bin aber offenbar einer der wenigen.

Nüchtern oder betroffen?

Ich arbeite fürs Radio. Also stelle ich mir zwei Fragen, wenn ich einen Bericht über ein solches Ereignis schreiben und moderieren muss: Wie formuliere ich dieses Drama? Und in welchem Tonfall berichte ich darüber?

 

Im Normalfall entscheide ich mich beim Texten für einen "nüchternen" Tonfall. Die Fakten. Ohne viele beschreibende und/oder dramatisierende Adjektive... die Geschichte ist an sich tragisch genug - da muss ich die Tragweite dieser Tragik doch nicht noch speziell betonen, oder?

 

Den richtigen Tonfall zu treffen, das versuche ich noch nach Jahren in diesem Beruf vergeblich - finde ich. Am ehesten eine Mischung aus "nüchtern" und "betroffen"... ruhig, sachlich, aber auch etwas gedämpft. Ich bin schliesslich einfach Nachrichtenmann, nicht betroffen. Aber es macht mich doch etwas betroffen - und das darf man auch zeigen.

Das Problem: Gleich nach der Nachricht über dieses Familiendrama kommt ja dann etwas ganz anderes... Politik oder Wirtschaft. Und dann muss ich meinen "normalen" Tonfall wieder finden, ohne dass es einen zu starken Bruch gibt.

 

Aber weg von mir: Den Tonfall zu treffen, ist auch für andere schwer. Selbst der Aargauer Polizeisprecher klingt sehr bedrückt, wenn er mitten in der Nacht über das Drama Auskunft gibt. Und doch: Sein Job ist es, die Fakten zu erläutern. Furchtbare Fakten, aber Fakten. Nackte Informationen.

Die Nachbarn sind "geschockt"

Zurück zum Schriftlichen: Mein Internet-Eintrag (ja, als Radiojournalist verfasse ich heute auch Online-Meldungen) ist die überarbeitete Version einer Meldung der Nachrichtenagentur. Nüchtern. Fakten.

Sogar die "grösste Tageszeitung der Schweiz" beschränkt sich in ihrer Online-Ausgabe mehr oder weniger auf diese Fakten.

Online-Beitrag 1
Online-Beitrag 1

Eine andere Tageszeitung mit grossem Online-Portal aber ergänzt den Beitrag mit eigenen "Recherchen". Offenbar ist ein Reporter vor Ort - oder aber hat telefonisch herumgefragt. Das Resultat:

Online-Beitrag 2
Online-Beitrag 2

Die Nachbarn sind also geschockt. Die Frau war also nett... wenn man sie im Treppenhaus getroffen hat.

Ich frage: Was bringt mir diese Information an Mehrwert? Was weiss ich jetzt, was ich nicht auch ohne diese Textzeilen gewusst hätte? Natürlich sind die Nachbarn geschockt - sogar ich als Journalist bin es ja noch (wenn mich nicht gerade der in unserem Berufsstand so weit verbreitete Zynismus übermannt). Und natürlich war die Frau nett im Treppenhaus. Das sind ja fast alle - und wenn sie gestorben sind auf solch tragische Weise, dann sowieso.

Plädoyer für mehr Sachlichkeit

Ich bin kein Gegner der Boulevardpresse im Allgemeinen. Ich habe mich auch in meiner Redaktion dafür eingesetzt, dass "Kriminalia" einen höheren Stellenwert erhalten in der Gewichtung. Ich weiss, dass sich das Publikum für solche Themen "interessiert".

 

Und doch: Wenn man mit rein journalistischen Kriterien arbeiten würde, mit rein publizistischen Kriterien. Vielleicht wäre dieses Drama, so tragisch es auch ist, gar nicht der Rede wert? Es verändert den Lauf der Welt wohl kaum, es hat auf das breite Publikum überhaupt keine Auswirkung, es ist keine relevante Veränderung in unserem gesellschaftlichen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen Umfeld? Es ist einfach nur eine tragische Geschichte, die einem kleinen Kreis von Menschen wahrscheinlich das Leben zur Hölle macht. Natürlich ist das alles Theorie - und auch ich habe also über dieses Drama berichtet.

 

Warum können wir diese Geschichten aber dann nicht wenigstens mit der ihnen gebührenden Distanz abhandeln? Warum müssen wir auf Teufel komm raus noch den "Schock" und das "Drama" in Worte fassen - obwohl die Geschichte, die Fakten selbst alles beinhalten?

 

Entscheiden und erklären müssten dies die entsprechenden Chefredaktoren. Ich wäre mal gespannt auf die Antworten.

Entschuldigung

Das Thema ist nicht neu. Und meine Erkenntnisse bzw. Fragen sind es auch nicht. Aber ich musste es einfach mal wieder loswerden. Weil es mich irgendwie betroffen macht und ärgert.

Dies quasi als Entschuldigung für diesen Blog-Eintrag...

Und zuletzt noch dies: Vielleicht will ich mit diesem Text auch nur beweisen, dass es auch Journalisten gibt, die solche Dramen nicht geil finden. Ich bin einer davon.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0