Fall Rupperswil: Verstehen wollen

Journalisten und Kameraleute an der Medienkonferenz zum Fall Rupperswil in Schafisheim (AG)
Medienkonferenz zum Fall Rupperswil (Bild: Maurice Velati)

Ein Verbrechen wie der Vierfachmord von Rupperswil schockiert. Macht traurig, hilflos, wütend, ängstlich. Auch ich möchte wissen und verstehen, wie so etwas passieren kann. Wie ein Mensch zu einem grausamen Verbrecher wird.

Journalisten sollen Antworten liefern auf die Fragen des Publikums. Wir versuchen es auch in diesem Fall. Ich allerdings habe bisher kaum Antworten gelesen, die mir helfen.

Eine (etwas zynische) Kurz-Analyse.

 

Wer in diesen Tagen die wichtigsten Presseerzeugnisse des Landes liest, der kommt am Fall Rupperswil nicht vorbei. Dass gewisse Medien dabei berufsethische Grenzen überschreiten oder ritzen, das haben andere Journalisten und Blogger schon festgehalten.  Ich möchte deshalb nur noch eine Frage stellen: Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn.

 

Das wussten wir bereits

Seit der Medienkonferenz vor einer Woche schweigen Polizei und Staatsanwaltschaft. Seither müssen Journalisten auf eigene Faust recherchieren, wenn sie mehr erfahren wollen über Täter und Tathergang. Die Behörden sagten uns damals (in Kurzform): Der Täter ist 33-jährig, ledig, aus Rupperswil. Ein Mann, der Fussballjunioren trainiert und niemals zuvor aufgefallen war. Schon gar nicht als potentieller Sexual- und Gewaltverbrecher.

 

Das wissen wir jetzt

Und was wissen nach einer Woche medialer Berichterstattung zusätzlich? Eine mutwillig bösartig von mir zusammengestellte Liste der recherchierten Erkenntnisse:

  • Wir kennen auch Vor- und Nachnamen des Täters. Und natürlich sein Gesicht.
  • Wir wissen, wie sein Wohnhaus aussieht und wo es steht (und dass dort auch noch seine Mutter wohnt).
  • Wir wissen, dass der Bruder des Täters (ein unbescholtener Familienvater) Interviews ablehnt.
  • Wir kennen den Titel der Maturaarbeit des Täters, die er vor über zehn Jahren geschrieben hat. Ein damals hochaktuelles und viel diskutiertes Thema der internationalen Politik.
  • Wir wissen auch, an welcher Schule er diese Maturaarbeit geschrieben hat. An einer grossen Schule in der Kantonshauptstadt.
  • Wir wissen vermutlich, dass er in einem Kaffeehaus festgenommen wurde - und dass die Polizisten ihn wohl seinen Kaffee haben austrinken lassen, bevor sie ihm Handschellen anlegten.
  • Wir wissen, dass seine Nachbarin seit Jahren seine Nachbarin ist und nicht wusste, dass er ein Mörder ist.
  • Wir wissen, dass die Eltern seiner Schützlinge im Fussballclub fassungslos sind. Und natürlich auch nicht wussten, dass er ein Mörder sein könnte.
  • Wir wissen, dass verschiedenste Experten die Tat als sehr brutal einschätzen. Und ebenfalls fassungslos sind.
  • Wir wissen, dass das schon lange als eines der schlimmsten Verbrechen in der Schweizer Kriminalgeschichte bezeichnete Verbrechen tatsächlich eine Ausnahme ist, sagen die gleichen oder andere Experten.
  • Wir haben hoffentlich erkannt, dass die Gesichtszüge wohl definitiv nichts über den Charakter eines Menschen verraten können, ausser man glaubt an pseudowissenschaftliche und von den Nazis praktizierte Theorien.
  • Wir wissen auch, dass andere Eltern von Mördern es als sehr belastend empfunden haben, von der Boulevardpresse belagert zu werden

Frage 1:

Für welche Erkenntnisse benötigen wir eine mediale Berichterstattung, weil sie sich nicht sowieso automatisch erschliessen?

Frage 2:

Welche Erkenntnisse helfen tatsächlich beim Verständnis von Tat, Tatmotiv, Tathergang, Täterprofil?

 

Die Antworten kann sich jeder selber geben.

 

Was wir wissen werden

Es wird Erkenntnisse geben. In ein paar Monaten sind die psychiatrischen Gutachten abgeschlossen, die Staatsanwaltschaft hat ihre Anklage verfasst, der Gerichtsprozess beginnt. Dann werden wir wissen dürfen, wie genau die Polizei dem Täter auf die Spur gekommen ist. Dann werden wir erfahren, welche ernsthaften Diagnosen Psychiater stellen. Bis dahin werden Journalistinnen und Leser wohl auf echte Fakten warten müssen.

 

Ob wir dann auch verstehen werden, das ist nochmals eine ganz andere Frage.

 


Anmerkungen: 

  • Natürlich gibt es auch durchaus berechtigte Fragen und Antworten, die man bereits heute klären kann. Absehbare politische Folgen (die Diskussion um eine erweiterte Auswertung von DNA-Spuren) zum Beispiel. Erklärungsversuche von Experten, die über die fragwürdige Analyse von Ohrläppchen und Kinnform hinausgehen.
  • Natürlich hat auch meine Redaktion nicht nur am Freitag über diesen schrecklichen Fall berichtet, sondern auch in den Tagen danach. Allerdings sehr zurückhaltend im Vergleich.
  • Natürlich beschreibt dieser Artikel nur die persönliche Meinung des Autors und nicht die Haltung von SRF als Unternehmen. Dort arbeitet der Autor als Leiter der Regionalredaktion Aargau Solothurn.

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