Hörer-Reaktion: Braucht es diesen Beitrag?

Die Radio-Sendung «Regionaljournal Aargau Solothurn» von Radio SRF löst auch Kritik aus. Die Antworten der Redaktionsleitung lesen Sie hier.
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Als Leiter der Regionalredaktion von Radio SRF in Aarau treten immer wieder Hörer/innen mit ihrer Kritik oder ihren Anliegen an mich heran. Der jüngste Fall: Unsere Sendung hat die Affäre «Gerigate» und ihre Folgen noch einmal ausführlich und hintergründig abgehandelt. Die Kritik einer Hörerin: Das wäre nicht nötig gewesen - wir zerren damit erneut eine Privatsache ans Licht der Öffentlichkeit. Ein berechtigter Einwand, wie ich meine. Und doch habe ich die Ausstrahlung des Beitrags unterstützt.

Die Kritik der Hörerin richtet sich gegen den Beitrag/Artikel Stadt und Politik in Baden spüren «Gerigate» immer noch der Sendung «Regionaljournal Aargau Solothurn» von Radio SRF, ausgestrahlt am Montag, 22. August 2016. Dieser Beitrag sei überflüssig, so ihre Meinung. Wir hätten damit eine alte Geschichte und einen «letzlich privaten Fehler» des Badener Stadtammans erneut «aufgewärmt».

 

Meine Antwort an die Hörerin im Wortlaut:

 

Ich habe grosses Verständnis für Ihre Reaktion. Auch innerhalb unserer Redaktion war der am Montag gesendete Beitrag umstritten bzw. die Tatsache, dass wir dieses Thema überhaupt wieder aufgreifen. Wir haben es trotzdem gemacht – und ich habe als Redaktionsleiter diese Entscheidung gestützt. Meine Überlegungen dazu:

 

Vorbemerkung

Radio SRF und insbesondere die Regionalredaktion Aargau Solothurn hat im «Fall Geri Müller» immer sehr zurückhaltend berichtet und auch rückblickend meines Erachtens immer publizistisch korrekt. Wir haben zum Beispiel sehr rasch aufgeklärt darüber, dass der Vorwurf der Amtsanmassung nicht erfüllt sei – schon bevor Geri Müller selber an die Öffentlichkeit gegangen ist. Wir haben die Privatsphäre des Stadtammans also – so weit wie es nach der Publikation der Geschichte durch ein anderes Medium noch möglich war – immer gewahrt.

 

Relevanz

Wenn wir mögliche Themen für unsere Informationssendungen auswählen, dann beurteilen wir sie nach der Relevanz. Es geht uns also nicht nur darum, ob sich das Publikum für ein Thema interessiert, sondern auch darum, ob ein Thema «berichtenswert» ist, weil die gesamte oder einen Teil der Hörerschaft in irgend einer Form davon betroffen ist: Eine politische Entscheidung kann Betroffenheit auslösen (höhere Steuern zum Beispiel) oder ein Unglück in unmittelbarer Nähe (Verkehrsprobleme zum Beispiel). Ich erachte den «Fall Gerigate» als ein relevantes Thema: Weil – wie im Beitrag dargestellt – das politische Klima in der Stadt Baden durch diese Vorkommnisse nachhaltig verändert wurde, politische Geschäfte durch den Konflikt beeinträchtigt sind, die «Geschichte» auch - wie im Beitrag gehört – bei den Menschen auf der Strasse immer noch sehr präsent ist.

 

Aktualität

Ein weiteres Kriterium für die Berichterstattung ist in unserem Sendegefäss die Aktualität. Es stimmt, der eigentliche «Fall» liegt bereits zwei Jahre zurück. Allerdings sind in den letzten Tagen und Wochen wichtige Entscheidungen gefallen: Die Chat-Partnerin von Geri Müller wurde rechtskräftig per Strafbefehl verurteilt, der Presserat hat ein Urteil über die Berichterstattung in der «Schweiz am Sonntag» gefällt. Zudem stehen in ziemlich genau einem Jahr Stadtratswahlen an in Baden. Es ist durchaus üblich, dass wir vor wichtigen Wahlen (im Rahmen unseres Servicepublic-Auftrags zur politischen Meinungsbildung) inhaltliche Auslegeordnungen anbieten. Insofern gab es drei aktuelle «Aufhänger» für diese Berichterstattung – zudem «jährte» sich der Fall in diesen Tagen eben zum zweiten Mal (wie wir in der Anmoderation ja deutlich erklärt haben).

 

Einordnung

Sie erwähnen es in Ihrem Email: Der Stadtammann von Baden habe einen «letztlich privaten Fehler» gemacht. Ob es ein Fehler war, das überlasse ich Ihrer persönlichen Beurteilung. Aber die Feststellung, dass die Vorgänge rund um die Chatpartnerin «privat» waren, das wurde auch vom Presserat als freiwilliges Aufsichtsorgan der Schweizer Medien so festgehalten. Unsere Aufgabe als Journalistinnen und Journalisten besteht auch darin, gewisse Vorgänge der Öffentlichkeit zu erklären, Verständnis zu wecken für Zusammenhänge, Einordnung zu liefern. Das haben wir mit dem Beitrag am Montagabend explizit versucht. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung (in der Strassenumfrage abgebildet), dass Geri Müller wohl ein «Fehlverhalten» an den Tag gelegt habe, sind die entsprechenden juristischen und publizistischen Untersuchungen zu einem anderen Schluss gekommen: Das «Fehlverhalten» von Chat-Partnerin und Presse wurde im Beitrag deshalb deutlich dargestellt. Auch deshalb habe ich die erneute Berichterstattung zum Thema unterstützt: Weil wir mit diesem Beitrag einige weit verbreitete Fehlinformationen vielleicht etwas «gerade rücken» konnten.

 

Es bleibt die Frage...

Ja, wir haben die Geschichte «aufgewärmt». Aber wir haben aus meiner Sicht auch wichtige Informationen und Einordnungen für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Baden geliefert. Und wir versuchten durch inhaltliche Vorsicht und präzise Formulierungen, den Sachverhalt so objektiv wie möglich darzustellen. Auf keinen Fall ist meiner Meinung nach unserer Berichterstattung anzulasten, dass wir den Stadtammann von Baden damit bewusst in ein schlechtes Licht stellen würden. Aber – und in diesem Sinne bleibt Ihre aufgeworfene Frage berechtigt: Wir haben ihn und seine «Geschichte» erneut zur Sprache gebracht.

 

Ein schwieriger Entscheid – da gebe ich Ihnen Recht. Wir haben uns für das öffentliche Interesse und gegen allfällige Interessen eines einzelnen Betroffenen gestellt. Wir hätten auch anders entscheiden können. Journalismus ist keine exakte Wissenschaft, wie dieser Fall exemplarisch zeigt.

 

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