Gute Journalisten tragen keine Brillen

Journalisten tragen keine Brille.
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Ich bin kurzsichtig. Deshalb trage ich häufig eine Brille. Zum Beispiel beim Autofahren. In meinem Beruf als Journalist aber darf ich keine Brille tragen.

Ich versuche meine (kleine) Welt ohne Einschränkung des Blickfelds zu betrachten. Das wird oft nicht verstanden.

 

Eine Reaktion auf viele Hörerinnen- oder Leserkommentare.

 

Ich publiziere eine Reportage über eine Familie, welche einen jungen afghanischen Flüchtling als Pflegekind aufgenommen hat. Die Reaktion aus dem Publikum? Zusammenfassung: «Typisch linker Gutmensch. Blendet die Probleme der Überfremdung völlig aus.»

 

Meine Redaktion publiziert einen Bericht über eine Mahnwache von Anwohnerinnen und Anwohnern gegen eine geplante Asylunterkunft in einem Dorf. Die Reaktion aus dem Publikum? Zusammenfassung: «Typisch Sensationsjournalisten. Berichtet doch mal darüber, dass so eine Unterkunft kaum je Probleme macht!»

 

Es passiert aktuell vor allem bei Themen rund um die Migration. Und die Stimmen aus dem politisch rechten Spektrum sind dabei tendenziell lauter. Aber es passiert auch, wenn wir zum Beispiel über Atomkraftwerke berichten. Bereits die Verwendung des Begriffs «AKW» statt «KKW» (Kernkraftwerk) wird in Briefen an die Redaktion oder in den Kommentarspalten unseres Online-Angebots als politisches Statement seitens der Redaktion gewertet.

 

Ich kann Sie beruhigen: Wir verwenden die Begriffe abwechselnd. Das ist so in unserer Redaktion festgelegt. Weil wir uns der Sensibilität des politischen Konflikts durchaus bewusst sind. Weil wir wissen, dass das Thema «Energiewende» ein umstrittenes politisches Feld ist. Und weil wir selbst bei dieser reinen Begrifflichkeit jeglichen Anschein einer politischen Parteinahme unbedingt vermeiden wollen.

 

Das Publikum trägt Brillen

Warum aber registriert ein gewisser Teil des Publikums diese sprachliche Sorgfalt unserer Redaktion nicht? Warum wittert ein Teil des Publikums bei gewissen Beiträgen stets eine politische Agenda seitens meiner Redaktion, einzelner Journalisten oder ganzer Medienhäuser?

 

Das Publikum trägt Brillen. Etwas überspitzt formuliert (weil ich ja eben so ein Sensationsjournalist bin): Der AKW-Gegner wittert hinter jedem Medienbericht die Verschwörung der Atom-Lobby. Der Mitarbeitende aus dem Kernkraftwerk wiederum wittert hinter jedem Medienbericht die Handschrift einer langhaarigen «grünen Socke», die mit Jesus-Sandalen im Redaktionsbüro sitzt und beste Beziehungen zu Aktivisten von Greenpeace pflegt.

 

Ich verbringe einen nicht unwesentlichen Teil meiner Arbeitszeit damit, dem Publikum zu erklären, dass wir als Journalisten keine Politik machen, sondern über Politik und politische Konflikte berichten. Dass wir die Welt nicht verändern wollen in eine bestimmte Richtung, sondern dass wir die Veränderungsprozesse begleiten und die verschiedenen Veränderungswünsche der verschiedenen politischen Akteure darstellen.

 

Ich belege zum Beispiel, dass wir neben dem privaten Engagement einer Familie für ein Flüchtlingskind aus Afghanistan eben auch über den Widerstand gegen geplante Asylunterkünfte berichten. Ich belege, dass wir die Begriffe Atom- und Kernkraft abwechselnd nutzen. Ja, ich darf sogar immer mal wieder erklären, dass wir unsere Sendezeit in einem fairen Verhältnis auf die beiden Kantone in unserem Sendegebiet aufteilen - dass wir also rund zu einem Drittel aus dem Kanton Solothurn berichten und rund zu zwei Dritteln aus dem Aargau.

 

Weil ein Solothurner Hörer «ständig nur Aargauer Themen» hört und ein Aargauer Hörer «die viel zu vielen Berichte aus dem Kanton Solothurn» kritisiert. Obwohl regelmässige Hörerinnen und Hörer unseres Programms ohne weiteres feststellen könnten, dass wir unsere Berichterstattung in etwa gemäss Verteilung der Bevölkerungszahlen gestalten. Überspitzt formuliert: Würde unser Publikum unser Programm hören statt wütende Briefe oder Emails zu schreiben - die Gründe für die Wut wären objektiv längst verflogen.

 

Wir dürfen nicht gefallen wollen

Die Beantwortung solcher Reaktionen aus dem Publikum ist manchmal eine mühsame, manchmal eine sehr ärgerliche Aufgabe. Aber ich erfülle sie mit Stolz. Denn es zeigt mir, dass wir als Redaktion einen wichtigen Grundsatz der journalistischen Arbeit erfüllen. Wir gefallen nicht allen.

 

Wir gefallen denen nicht, welche die ganze Welt durch ihre eigene politisch gefärbte Brille betrachten. Wir sorgen immer bei denen für Kritik, die sich von uns die Darstellung ihrer eigenen Meinung wünschen. Wir stossen da auf Widerstand, wo wir durch unsere Berichterstattung eine Tür öffnen zu einer anderen Perspektive. Wir sind unbequem für Menschen, welche ihre eigene Vorstellung der Welt oder der Gesellschaft  als einzig wahre und objektive Realität ansehen.

 

Das ist die Aufgabe von uns abschätzig als «Mainstream-Medien» bezeichneten öffentlich-rechtlichen oder privaten Forumsmedien. Wir bieten verschiedenen Perspektiven auf diese Welt eine Plattform - damit diese Perspektiven in einem Wettstreit zueinander vom Publikum bewertet werden können. Wir tragen zur Meinungsbildung bei, indem wir nicht einfach vorgefasste Meinungen verstärken, sondern dieser Meinung andere Meinungen gegenüberstellen.

 

Wer das nicht erträgt, der kann auf andere Medien ausweichen. Es gibt auch in unserem Land Publikationen, welche mit einer klaren Perspektive auf die Welt schauen. Publikationen, deren Berichte durch Auslassung von Fakten oder durch Fokussierung auf bestimmte Inhalte oder durch gezielte Interpretationen ein bestimmtes Weltbild zementieren und verstärken. Das Publikum kann bequem in seiner «Filterblase» verharren und wird nicht durch abweichende Meinungen oder irritierende Zugänge gestört.

 

Vielleicht sollte ich den wütenden Briefeschreibern oder Kommentatoren den Genuss solcher Publikationen empfehlen? Das würde mir wohl einiges an Arbeit ersparen. Aber ich kann nicht. Denn diese Art von Journalismus entspricht nicht meiner Vorstellung unseres Berufs.

 

Wir müssen die Kritik aushalten, wir müssen uns erklären. Denn Journalismus sollte Augen öffnen. Dem Publikum ermöglichen, seine Brille immer wieder abzusetzen. Oder wenigstens die Gläser zu reinigen.

 


Disclaimer:

Der Autor ist Mitarbeiter von Schweizer Radio und Fernsehen. Dieser Text gibt die persönliche Ansicht des Autors wider. Der Autor hat diese Zeilen aus eigenem Antrieb und ohne Beteiligung des Unternehmens verfasst.

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