Die Cervelat ist mir Wurst

Wieder einmal sorgt ein Facebook-Post für einen Medien-Hype. Es geht um eine Wurst, den Islam und die Frage: Wie viel Wahrheit braucht es eigentlich, damit eine Geschichte wirklich eine Geschichte ist?

Eine vielleicht mal wieder etwas belehrend wirkende (sorry!) kleine Wutrede vor dem Sommerloch.

Cervelat über dem Feuer
EmmaN / pixelio.de

Natürlich verfolge auch ich die Aktivitäten von Politikerinnen und Politikern aus meiner Region in sozialen Medien. Und natürlich habe auch ich den inzwischen berühmten Facebook-Post eines Aargauer Nationalrats gesehen über ein angebliches Cervelat-Verbot an einem Anlass einer Jugendorganisation. Meine Redaktion und ich haben nach kurzer Diskussion aber beschlossen, dass diese «Geschichte» eben keine Geschichte ist.

 

Ich erkläre gerne kurz, weshalb wir zu diesem Schluss gekommen sind und weshalb - auch nach dem erwartbaren Medienhype - ich immer noch zu dieser Entscheidung stehe. Und falls Sie die Geschichte tatsächlich nicht kennen sollten, dann können sie diese zum Beispiel beim «Zofinger Tagblatt» nachlesen.

 

Wahrheit und erzählung

Haben Sie das auch schon erlebt? Sie erzählen einem Kollegen eine Story, der erzählt sie weiter, dann wird sie noch einmal weiter erzählt und irgend einmal viel später erzählt Ihnen jemand Ihre Story... und Sie wundern sich darüber, was aus Ihrer Geschichte inzwischen geworden ist?

 

Informationen «aus zweiter Hand» oder Geschichten «vom Hörensagen» sind Alltag in unseren Gesprächen. Journalistisch allerdings haben sie praktisch keinen Wert. Klar, als Ausgangspunkt für eine Recherche sind sie nützlich, als Inhalt für einen Artikel aber höchst fragwürdig. Es gibt ja nicht umsonst unter News-Journalisten die sogenannte «2-Quellen-Regel». Nur wenn eine Geschichte oder eine Tatsache von zwei voneinander unabhängigen Quellen bestätigt wird, kann sie als gesichert angesehen werden.

 

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Aussage eines Politikers, er habe von jemandem etwas gehört, keine verwertbare Geschichte. Schon gar nicht, wenn es auf Nachfrage dann heisst, er könne oder wolle die Originalquelle nicht preisgeben. Der Sachverhalt bleibt für die Journalisten nicht überprüfbar. Es bleibt eine Erzählung, eine Behauptung.

 

Wahlkampf und Klicks

Diese Erzählung gewinnt nicht zwingend an Glaubwürdigkeit, wenn man sich einer zweiten journalistischen Grundregel bedient: Überprüfe die Absicht der Quelle! Die Quelle ist in diesem Fall ein Politiker, der sich im Herbst wohl der Wiederwahl für ein nationales Amt stellt. Ein Politiker, der seit Jahren durch seine ziemlich provokative Kommunikation auffällt und mit dieser Erzählung selbstverständlich vermeintliche Belege für sein eigenes politisches Programm oder Weltbild gefunden zu haben glaubt.

 

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich unterstelle niemandem, dass er nicht die Wahrheit sagt. Ich erkläre nur, was mir als Journalist bei der Überprüfung meiner Quelle durch den Kopf gehen könnte. Gerade auch, weil ich mich noch gut an eine Geschichte erinnere, die vor einigen Jahren im Zusammenhang mit diesem Politiker in unserem Kanton für Schlagzeilen sorgte. Eine provokative Aussage, basierend auf «Hörensagen», die sich im Nachhinein zumindest nicht «erhärten» liess. Sie ist in diesem Artikel der «Aargauer Zeitung» (PDF) von 2011 kurz erklärt.

 

Nun stellt sich natürlich die Frage: Weshalb entscheiden sich Redaktionen dann eben doch für die Publikation dieser «Geschichte», obwohl gewisse Standesregeln doch eindeutig dagegen sprechen? Man kann nur vermuten: Die Anzahl Likes und Shares sind durchaus beeindruckend.

 

Wurst und Brot

Mir ist trotz unzähligen Medienberichten bis heute nicht klar, wie wahr die Geschichte wirklich ist. Belege für ein «Cervelat-Verbot» an einem Fest, in einer Schule oder bei einer Jugendorganisation fehlen bisher in allen Berichten, die ich zum Thema gesehen habe.

 

Dass eine Lehrerin bei einem gemeinsamen Essen, bei dem die Schülerinnen und Schüler das Essen auch teilen sollen, darauf hinweist, dass es Menschen mit «kulinarischen Einschränkungen» gibt, das erscheint mir nicht wirklich eine besonders aufregende Tatsache zu sein.

 

Mein früherer Chef war Vegetarier, eine Praktikantin isst sogar vegan, eine Mitarbeiterin hat verschiedene Allergien. Ich kenne die «Probleme» gemeinsamer Verpflegung in einem heterogenen Team also durchaus auch aus meinem persönlichen Umfeld. Ich hätte daraus jetzt aber noch nie eine Geschichte machen wollen...

 

Unabhängig von politischen Präferenzen und Weltbildern lässt sich sagen: Die Aufregung zum Thema Cervelat war für mich angesichts der nicht vorhandenen Fakten doch ziemlich beeindruckend.

 

Weisheiten und Lösungen

Dürfte, müsste oder könnte ich anderen Journalistinnen und Journalisten etwas auf den Weg geben, dann wären es ein paar ganz grundsätzliche und einfache Merksätze:

  • Nicht jeder Facebook-Post ist wichtig
  • Nicht jede Erzählung ist eine Tatsache
  • Ohne Tatsachen gibt es keine Geschichte
  • Nicht jede «gestorbene» Geschichte ist eine, die man vermissen muss

Das gilt übrigens - so meine ich - durchaus auch im viel zitierten «Sommerloch».

 

PS: Falls es tatsächlich Schweinefleisch-Verbote gibt... die Cervelat ist dadurch nicht wirklich in Gefahr, wie ein User-Kommentar beim «Zofinger Tagblatt» festhält. Es gibt ja auch Poulet-Cervelats. Nur den Vegetarieren hilft das leider nicht...

 


Disclaimer

  • Ich bin Redaktionsleiter der SRF-Regionalredaktion Aargau Solothurn (siehe Biografie)
  • Dieser Artikel ist meine ganz persönliche Ansicht. Er wurde aus persönlichem Antrieb und ohne Absprache mit Unternehmen oder Verein SRG verfasst und publiziert. 
  • Selbstverständlich wurde dieser Text (und auch alle anderen Texte in diesem Blog) nicht während der Arbeitszeit, sondern in der Freizeit bzw. in den Ferien geschrieben. Diese Gedanken kosten die Gebührenzahlenden also nichts.

Feedback und Debatten erwünscht!

Ich stelle mich gerne der Diskussion. Hier über das Kommentarfeld, in sozialen Medien oder auch persönlich bei Kaffee oder Bier. Ich bitte allerdings um Verständnis dafür, dass ich jeweils nicht sofort auf jeden Kommentar antworten kann, da ich zu 100 Prozent berufstätig bin und diesen Blog wie oben erwähnt natürlich nur privat betreibe. Zudem erlaube ich mir kurz nach der Publikation dieses Posts sogar eine kurze Auszeit im Ausland.

Und ich bitte ebenso um Verständnis, dass ich alles löschen werde, was den üblichen Richtlinien des guten Geschmacks und einer aufgeklärten Gesellschaft widerspricht.


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Kommentare: 4
  • #1

    Adrian Gasser (Sonntag, 08 Juli 2018 00:05)

    Danke. Ich bin ein wenig eifersüchtig, den Text hätte ich gerne selber verfasst.

  • #2

    Stephan Wullschleger (Sonntag, 08 Juli 2018 11:03)

    Als betroffener Gemeindeammann der Standortgemeinde dieser erwähnten Schule finde ich ihre Stellungnahme sehr treffend. Ich stehe voll hinter der Aussage, "wir wollen uns nicht von fremden Kulturen befehlen lassen, wie wir uns verhalten müssen". Ich verurteile aber, wenn falsche Aussagen gemacht werden oder nur das zum eigenen Nutzen herausgenommen wird, damit man ein Thema breitschlagen kann. Als SVP Gemeindeammann stehe ich sehr für unsere Grundwerte ein. Ich habe aber auch Verständnis über das Vorgehen der Lehrerin und wir werden für die Zukunft geeignete Abläufe aufzeigen, damit solche Projekte mit einer besseren Kommunikation immer noch möglich sind. Respekt und Rücksicht in der Schule heisst noch lange nicht kuschen und sich unterdrücken lassen. Als Nationalrat falsche Darstellungen in die Welt zu setzen ist einfacher, als nur einen Tag mit dieser Vielfalt von Kinder und Kulturen zu unterrichten.

  • #3

    Maurice Velati (Sonntag, 08 Juli 2018 11:21)

    Sehr geehrter Herr Wullschleger! Vielen Dank für Ihre - sozusagen «offizielle» - Stellungnahme. Ich fühle mich geehrt, dass dieser private Blog auch von Ihnen gelesen wird. Zur Debatte an sich habe ich mich bewusst nicht eingehend geäussert, weil meine persönlichen politischen Ansichten gar keine Rolle spielen. Vielmehr geht es mir eben genau darum, dass Debatten nur dann sinnvoll sein können, wenn sie auf Fakten beruhen. Alles andere sind «Schein-Debatten», welche m.E. a) der politischen Kultur und b) dem Vertrauen in den Journalismus schaden. Dass die «Realität» und der «Alltag» selten so einfach und schwarz/weiss sind wie in politischen Grundsatzdebatten dargestellt, davon habe ich mich in meinen vielen Jahren als Journalist inzwischen auch überzeugen können. Auch deshalb bin ich gegenüber sehr emotionalen und polarisierten Debatten kritisch. Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Rückmeldung!

  • #4

    Cornelia W. (Sonntag, 08 Juli 2018 13:04)

    Vielen Dank für diese objektive Betrachtung, Sie schreiben mir aus der Seele! Es ist für mich schon lange ein Ärgernis, dass solche Leute immer wieder eine so grosse Plattform in den Medien finden.