Geschichten finden oder Geschichten erfinden?

Der «Fall Relotius» schadet der Glaubwürdigkeit des Journalismus. Wenn ein preisgekrönter Journalist ganze Reportagen erfindet, dann gerät die Branche unter Generalverdacht. Darin sind sich fast alle Kommentatoren einig. Doch ich möchte den Fall Relotius auch für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit einem tatsächlich vorhandenen Problem im Journalismus nutzen: Auch «seriöse» und ehrliche Journalisten (ich zähle mich dazu) im Newsbereich bewegen sich täglich auf einem schmalen Grat zwischen Realität und Inszenierung.

Journalisten bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Inszenierung.
(c) Andreas Berheide/stock.adobe.com

 

Lesezeit: Rechnen Sie mal mit gut 15 Minuten!

 

«Sagen, was ist». Diesem Leitspruch von Rudolf Augstein will sich das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel verpflichtet fühlen. Der Skandal um den Journalisten Claas Relotius will die Chef-Etage deshalb «in aller Demut» aufarbeiten. «Sagen, was ist». Damit grenzen wir Journalistinnen und Journalisten uns ab von literarischen Autorinnen und Autoren. Diese «sagen, was sein könnte». Sie inszenieren eine Geschichte.

 

Fiktion hat im Journalismus natürlich nichts verloren. Das schreiben etliche Kommentatorinnen und Kommentatoren im Nachgang zum «Fall Relotius». Einige gehen noch weiter und fordern die «Neutralisierung» journalistischer Berichterstattung - keine Perspektive mehr, keinen moralischen Kompass, keine Textkunst, nur «Fakten, Fakten, Fakten» (Hinweis: Der österreichische ORF-Journalist Armin Wolf hat in seinem Blog die verschiedenen Reaktionen sehr lesefreundlich gerafft dargestellt und verlinkt).

 

Sorry, «die Wahrheit» gibt es nicht

Die Forderung nach absoluter Objektivität im Journalismus begegnet mir im Alltag immer wieder. Sie ist aus meiner Sicht komplett illusorisch, wie ich schon bei anderer Gelegenheit in diesem Blog erwähnt habe. Gleichzeitig erfüllen viele Reportagen natürlich alle Regeln der Kunst, wie Tagesspiegel-Reporterin Deike Diening zu Recht festhält.

 

Und doch: Der «Fall Relotius» bietet Anlass zur selbstkritischen Reflexion: Bleibt die Fiktion in meiner journalistischen Arbeit tatsächlich immer komplett aussen vor? Oder sind die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion manchmal einfach fliessend?

 

Ich befürchte, dass ich die erste Frage mit «nein» und die zweite Frage mit «ja» beantworten muss (und bin mir sehr wohl bewusst, dass diese Formulierung alles andere als lesefreundlich ist... die Leserschaft möge mir diese Hirnzellen-Aktivierung verzeihen).

 

Inszenierung durch Form

oder: Was nicht passt, wird passend gemacht

 

Journalistische Arbeit hat immer zwei Komponenten: Inhalt und Form. Diese beeinflussen sich gegenseitig. Wenn ich beispielsweise bei einer Recherche keine zitierfähigen Aussagen erhalte, dann muss ich eine Beitragsform ohne O-Töne oder Zitate wählen. So beeinflusst Inhalt die Form der Berichterstattung. Aber die Form kann umgekehrt auch den Inhalt beeinflussen.

 

Denn auch journalistische Beiträge sollen dem Publikum «gefallen». Dazu müssen sie «gefällig» konstruiert sein - verständlich und spannend. Wenn ich beispielsweise eine Radio-Reportage gestalte, dann behandle ich die verschiedenen Aspekte des Themas je an einem anderen Schauplatz. So führe ich die Hörerinnen und Hörer leicht nachvollziehbar von einem Ort zum anderen und von einem thematischen Aspekt zum anderen.

 

Dabei helfe ich der Dramaturgie bei Bedarf etwas nach. Ich montiere im Beitrag die Schauplätze nicht zwingend in derselben Reihenfolge, in der ich diese Schauplätze mit den Protagonisten zusammen auch besucht habe. Manchmal erfordert die Logik der Geschichte, dass ich die Reihenfolge verändere. Die Form bestimmt damit einen Teil des Inhalts. Ist das legitim? Ich glaube ja. Denn ich verändere nicht den Inhalt an sich, die dargestellte Faktenlage. Aber ich inszeniere die Aussagen und Fakten in einer neuen Ordnung, damit sie besser verständlich werden.

 

Ein anderer Fall: Es gibt in der Storytelling-Theorie gewisse Narrative, die besonders gut funktionieren. «David gegen Goliath» zum Beispiel, der Kampf zwischen dem vermeintlich machtlosen Kleinen und dem vermeintlich allmächtigen Grossen. Viele journalistische Beiträge bedienen sich dieses Narrativs - zum Beispiel, wenn es um den Kampf eines Parksünders gegen die «Mühlen der Justiz» geht. Aber ist es legitim, den Parksünder als David und die Justiz als Goliath darzustellen? Zumindest aus der Perspektive des zuständigen Richters könnte das Narrativ auch ein ganz anderes sein: Der Querulant (Parksünder), der das faire System (Justiz) masslos ausnutzt und missbraucht.

 

 

Die Personalisierung von Konflikten ist ein weiterer Trick, um recherchierte Fakten «eingängiger» und verständlicher darzustellen. «Politiker XY ärgert sich», lautet der fiktive erste Satz eines so gestalteten Artikels. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird die Gegenposition zum Beispiel eines Amtsleiters mit den Worten «das kritisierte Amt wehrt sich gegen diese Vorwürfe» eingeleitet. Das kann natürlich genau so stimmen.

 

Aber es kann auch massiv übertrieben sein: Der Politiker hat einen aus seiner Sicht bestehenden Missstand erkannt und benannt, das Amt verteidigt lediglich die bisherige Auslegung der Rechtsordnung. Wenn man die beiden «Kontrahenten» fragen würde, dann spräche keiner von beiden von einem «Streit». Der Journalist in diesem fiktiven Beispiel (und ja, er könnte ich sein) hat aber nie gefragt, ob er von einem «Streit» schreiben soll oder lieber nicht. Er hat die unterschiedlichen inhaltlichen Auffassungen zur Rechtslage schlicht als einen «Streit» gedeutet und  - weil es so gut zu erzählen ist - zu einem persönlichen Konflikt inszeniert. Die Fakten (es gibt eine Meinungsverschiedenheit) stimmen. Die Inszenierung der Fakten (ein persönlicher Streit) ist übertrieben. Kein journalistisches Kapitalverbrechen vielleicht, aber zumindest grenzwertig.

 

Inszenierung durch Selektion

oder: Wir zeichnen uns unsere Welt

 

Ein gefälliges (und damit potentiell erfolgreiches) journalistisches Produkt lebt auch davon, dass es sein Publikum in Bezug auf die Quantität nicht überfordert. Kein Mensch liest täglich eine 135-seitige Zeitung, ein durchschnittlicher Fernsehbeitrag in der Tagesschau ist 90 bis 120 Sekunden lang, die regionalen Frühnachrichten meiner Radio-Redaktion dauern maximal 5 Minuten. Diese Vorgaben schränken ein. Journalistinnen und Journalisten werden zu Recht auch als «Gatekeeper» bezeichnet: Sie wählen aus, was wichtig ist. Damit das Publikum nicht im Newsfluss ertrinkt.

 

Doch was heisst das im Alltag? Wenn wir über eine Gesetzesänderung berichten, dann wählen wir einen bestimmten Aspekt aus den umfangreichen neuen Regelungen aus. Wir fokussieren auf eine aus unserer Sicht besonders relevante Änderung, weil wir nicht 37 Paragraphen Gesetzestext vorlesen und erklären können und wollen. Wir lassen aber auch ganze Themen weg, weil wir sie als für unser Publikum weniger wichtig oder spannend beurteilen.

 

Konkret: Wenn die «Medienrealität» die «Lebensrealität» abbildet, dann beschäftigen sich die Menschen im Kanton Aargau aktuell damit, dass das Museum Schloss Lenzburg weniger Besucherinnen und Besucher verzeichnete in diesem Jahr, dass es in Muhen sehr viele Unterschriften für ein Referendum braucht und dass man in Wohlen darüber diskutiert, ob es an der Kinderfasnacht Würstchen aus Schweinefleisch oder aus Pouletfleisch geben soll (es gibt übrigens beides, die «Wienerli-Debatte» fusst auf einem Missverständnis).

 

Diese vielleicht absurd anmutende Aufzählung aktuell publizierter Artikel regionaler Medien zeigt: Die Medienrealität ist eine Inszenierung der gelebten und gefühlten Realität. Etwas provokativer formuliert: Sie ist wohl sogar eine ziemlich schlechte Inszenierung der Lebensrealität.

 

Ein inszeniertes Ende

oder: Was ich persönlich aus dieser Geschichte mitnehme

 

Das sind ziemlich banale Erkenntnisse (vor allem wenn man die Länge des bisher gelesenen Textes berücksichtigt - ich entschuldige mich). Aber die aufgeführten Beispiele sollen (so die hehre Absicht des Autors) zeigen, dass wir Journalistinnen und Journalisten Realität immer auch inszenieren. Dabei stehen wir an der Grenze zwischen legitimer Inszenierung und illegitimer Fiktion. Die Gefahr, dass wir diese Grenze überschreiten, ist meiner Ansicht nach gross.

 

Vor allem in Form von Übertreibung oder «Zuspitzung». Die Meinungsverschiedenheit wird zum «Streit», die eine Meinungsäusserung eines Politikers wird zur «Debatte», die paar Kommentare auf Twitter werden zum «Shitstorm». Noch weit bevor Journalisten ganze Figuren oder Interviews erfinden, noch bevor wir «Fakten verdrehen» oder uns wirklich als «Lügenpresse» beschimpfen lassen müssten, weit vor diesen klaren Verstössen gegen unser Berufsethos also müssen wir uns die Frage stellen, ob wir nicht doch bereits die Grenze zwischen Inszenierung und Fiktion überschritten haben.

 

Bei fiktionalen Geschichten - in Romanen und Filmen - wird oft ein Hinweis publiziert. «Ähnlichkeiten mit real existierenden Handlungen und Personen sind rein zufällig». Vielleicht sollten wir journalistische Texte mit dem Hinweis versehen: «Real existierende Handlungen und Personen sind die Basis.»

 

 

Das ist kein Plädoyer für langweilige Texte, ausufernde Radiobeiträge, die Abschaffung aller Kurzformate. Aber wir Journalisten sollten uns im Alltag immer mal wieder überlegen, wie viel Inszenierung für die Optimierung unserer Geschichten noch tolerierbar ist (und ich spreche da vor allem vom Newsgeschäft mit kurzen Formaten und hohem Produktionsdruck).

 

Im Zweifelsfall ist es für die Glaubwürdigkeit unserer Arbeit und unserer Branche insgesamt wohl besser, wenn wir die Geschichte nicht ganz so «knackig» hinkriegen, aber dafür noch etwas näher an der Realität. Damit habe ich einen persönlichen Vorsatz für 2019 formuliert.

 

«Sagen, was ist» bleibt eine Illusion. Die Realität in ihrer Gesamtheit abbilden ist unmöglich. «Sagen, was wir wichtig finden» wäre ehrlicher. Dazu sollte die Branche Transparenz herstellen: Zeigen, wie eine Redaktion Themen auswählt, erklären, wie eine Redaktion die Qualität der Inhalte überprüft, offen sein für Kritik und Anregungen aus dem Publikum. Das zumindest versuche ich bereits so gut wie möglich umzusetzen - auch mit Texten wie diesem hier.

 

Vielleicht - so meine Hoffnung - könnte dadurch auch das Publikum mit der Zeit wieder lernen, dass Journalismus manchmal weniger attraktiv sein muss als Literatur. Dass die Konsumation journalistischer Produkte anstrengend sein kann. Weil Fiktion im Journalismus eben doch nichts verloren hat.

 


Disclaimer

  • Ich bin Redaktionsleiter der SRF-Regionalredaktion Aargau Solothurn (siehe Biografie)
  • Dieser Artikel ist meine ganz persönliche Ansicht. Er wurde aus persönlichem Antrieb und ohne Absprache mit Unternehmen oder Verein SRG verfasst und publiziert. 
  • Selbstverständlich wurde dieser Text (und auch alle anderen Texte in diesem Blog) nicht während der Arbeitszeit, sondern in der Freizeit bzw. in den Ferien geschrieben. Diese Gedanken kosten die Gebührenzahlenden also nichts.

Feedback erwünscht

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Und ich bitte ebenso um Verständnis, dass ich alles löschen werde, was den üblichen Richtlinien des guten Geschmacks und einer aufgeklärten Gesellschaft widerspricht.


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Kommentare: 1
  • #1

    Goggi (Sonntag, 30 Dezember 2018 17:40)

    Ich runzle immer die Stirn wenn allgemein von "den Medien" die Rede ist, oder auch von einem einengenderen Beriff wie "der Lokaljournalismus". Es gibt ja auch nicht infach nur "den Empfänger".

    Wie konsumiert der Einzelne oder die Einzelne "Medien"? Tagesschau? 20minutenonline, als Feed auf Social Media ? Oder bsteht seine/ihre Medienwelt aus Freizeit Revue, Instagram oder Glanz und Gloria? Zuckt er bei Trump die Schultern und möchte er lieber über den Tunnel durch Unterkulm Bescheid wissen? In der Wahrnehmung der Konsumenten, insbesondere aufgeteilt in Altersgruppen, sind "die Medien" immer etwas anderes. Das gilt auch für den Lokaljournalismus: Reicht ihm oder ihr, was im Radio kommt? Kaufe ich mir eine Lokalzeitung? Oder reicht der Gratisanzeiger? Und selbst da haben Regi, Dorfheftli und die Anzeigerzeitung unterschiedliche Aufträge.

    Kurzum: "Der Empfänger", der nur eine bestimte Zeit für "die Medien" zur Verfügung hat, muss selektionieren. Wer gewinnt das Rennen um die wertvolle Zeit? Der serjöse Lokaljournalist mit dem fixen Sendegefäss, oder der Generator schneller Schlagzeilen, der die Reichweite maximiert weil er schneller auf die Gewohnheiten von Pendlern und Smatphonebesitzer reagiert hat? Ich füchte, es ist letzterer, Hunderte Kommentare und Tausende Daumen beim Wienerli-Skandal sind ein Hinweis darauf. Wenn man also von "den Medien" spricht, dann auch "den Empfänger" berücksichtigen. Beide sind extrem unterschiedlich.